Man muss die Verhältnismäßigkeit wahren

01. November 2022

Wie­ner Zei­tung heu­te - Gastkommentar:
Dop­pel­mo­ral des Wes­tens hilft Diktaturen

von: Maram Stern, Vize­prä­si­dent des World Jewish Con­gress (WJC)
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Lei­der aber brach­ten die Grün­dung der UNO und die Kodi­fi­zie­rung der Men­schen­rech­te nicht das Ende der Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen. Ja, die Men­schen­rech­te selbst gerie­ten schnell zur Waf­fe in der Aus­ein­an­der­set­zung des Kal­ten Krie­ges. Die west­li­chen Staa­ten rekla­mier­ten - zu Recht - anhal­ten­de Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen im Ost­block. In ihrer eige­nen Poli­tik außer­halb Nord­ame­ri­kas und Euro­pas waren die Men­schen­rech­te jedoch nicht Leit­stern ihres Han­delns. Bei der Wahl der Ver­bün­de­ten spiel­te deren anti­kom­mu­nis­ti­sche Hal­tung die ent­schei­den­de Rol­le, nicht die Behand­lung der eige­nen Bevöl­ke­rung. Und von Korea über Alge­ri­en bis Viet­nam ver­stie­ßen die USA und ihre Ver­bün­de­ten gegen die grund­le­gends­ten men­schen­recht­li­chen Prin­zi­pi­en. Die UdSSR mach­te sich dies zunut­ze und gerier­te sich als Part­ner der Unter­drück­ten im anti­ko­lo­nia­len Befrei­ungs­kampf, ohne jedoch die Rech­te der dor­ti­gen Bevöl­ke­rung in Betracht zu zie­hen. Für die sowje­ti­sche Poli­tik im In- und Aus­land spiel­ten die Men­schen­rech­te ohne­dies kei­ne Rolle.

So weit so stimmig -

Lei­der hat sich an die­sem grund­le­gen­den Miss­stand auch nach dem Kal­ten Krieg wenig geän­dert, was es den Dik­ta­to­ren der Welt ermög­licht, unter Ver­weis auf Dop­pel­mo­ral die Men­schen­rech­te als blo­ßes Vehi­kel zur Ein­mi­schung in ihre inne­ren Ange­le­gen­hei­ten zu diskreditieren.

Ach­so, ja das sich als “anti­ko­lo­nia­lis­ti­sche Befrei­er gerie­ren” war das Pro­blem, nicht der Ver­stoß der USA und ihrer Ver­bün­de­ten (ob das der Wer­te­wes­ten auf den Kir­chen­bän­ken in der Pauls­kir­che bei der Frie­dens­preis­ver­lei­hung des deut­schen Buch­han­dels an einen Kriegs­pro­pa­gan­dis­ten weiß?) gegen die grund­le­gends­ten men­schen­recht­li­chen Prinzipien.

Das ist an der Stel­le aber natür­lich kei­ne Dop­pel­mo­ral. Denn gegen die Dop­pel­mo­ral sind wir ja in der Überschrift.

Umso wich­ti­ger sind neu­tra­le Instan­zen, die über die Ein­hal­tung der Men­schen­rech­te welt­weit wachen. Neben ein­schlä­gi­gen Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen kommt die­se Auf­ga­be vor allem der UNO zu. Sie kann sie jedoch nur erfül­len, wenn sie als objek­ti­ve Sach­wal­te­rin auf­tritt. Frei­lich gilt das Amt des Hohen Kom­mis­sars der Ver­ein­ten Natio­nen für Men­schen­rech­te nicht umsonst als einer der schwie­rigs­ten, wenn nicht gar der schwie­rigs­te Pos­ten bei der UNO. Zahl­rei­che Mit­glied­staa­ten sind kor­rup­te Dik­ta­tu­ren, die die Rech­te ihrer Bür­ger mit Füßen tre­ten, und den­noch ist der UN-Menschenrechtskommissar dar­auf ange­wie­sen, auch mit ihnen zusam­men­zu­ar­bei­ten. Vie­le Bewoh­ner des glo­ba­len Südens sehen zudem in der UNO und ihren Orga­ni­sa­tio­nen ein Instru­ment des Wes­tens. Auch die­sen Ver­dacht muss der neue Kom­mis­sar wirk­sam zer­streu­en und darf folg­lich west­li­che Demo­kra­tien nicht von sei­ner Kri­tik ausnehmen.

Soweit so stimmig.

Vol­ker Türks Vor­gän­ge­rin Michel­le Bache­let hat aller­dings kei­ne gute Balan­ce gefun­den. So muss­te Isra­el mehr Kri­tik von ihr ein­ste­cken als etwa Syri­en, wo das Regime seit mehr als zehn Jah­ren einen bru­ta­len Krieg gegen die eige­ne Bevöl­ke­rung führt, des­sen Opfer inzwi­schen wohl die Gren­ze von einer hal­ben Mil­li­on überschreiten.

Um nicht falsch ver­stan­den zu wer­den: Demo­kra­tien haben kei­nen Frei­fahrt­schein. Ihre Ver­feh­lun­gen sol­len und müs­sen genau­so kri­ti­siert wer­den wie die aller ande­ren Staa­ten. Aber die Pro­por­tio­nen müs­sen gewahrt blei­ben. Die schwers­ten Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen müs­sen am schärfs­ten ange­pran­gert, die dafür ver­ant­wort­li­chen Staa­ten am hef­tigs­ten kri­ti­siert wer­den. Ohne die­se Ver­hält­nis­mä­ßig­keit ver­liert das Amt des Men­schen­rechts­kom­mis­sars wei­ter an Glaub­wür­dig­keit, mit ihr kann es zum Instru­ment wer­den, das es immer sein sollte. 

Bit­te was? Isra­el soll­te aber nicht zu sehr kri­ti­siert wer­den, denn das wäre nicht ver­hält­nis­mä­ßig und wür­de daher dem Anse­hen des Amts des Men­schen­rechts­kom­misars scha­den, deren Vor­gän­ge­rin, einen sehr schlech­ten Job gemacht hat, in dem sie Isra­el zu öffent­lich und daher nicht ver­hält­nis­mä­ßig kri­ti­siert hat?

Wir sind aber immer noch gegen Dop­pel­mo­ral, oder? In der Über­schrift, und im letz­ten Paragraph -

Der neue Men­schen­rechts­kom­mis­sar Türk tritt ein schwe­res Erbe in einem har­ten Amt an. Wir wün­schen ihm viel Erfolg für die­se anspruchs­vol­le Auf­ga­be und sichern ihm unse­re vol­le Unter­stüt­zung zu. Die Welt braucht einen star­ken UN-Menschenrechtskommissar mehr denn je. 

Ob der Vize­prä­si­dent des World Jewish Con­gress für sei­ne Medi­en­ar­beit bezahlt wird? Ich mei­ne die rhe­to­ri­sche Kunst­fer­tig­keit hier ist ja erstklassig!

Ich tei­le die Arbeit des Men­schen­rechts­kom­misars der Ver­ein­ten Natio­nen ja auch in grund­sätz­lich zwei Kategorien.

Gut, weil kri­ti­siert Isra­el nur verhältnismäßig
und
schlecht, weil kri­ti­siert Isra­el über Gebühr.

Das ist doch der Maß­stab, der hier anzu­le­gen ist. Viel­leicht soll­te man den neu­en UNO Men­schen­rechts­kom­mis­sar gleich in den ers­ten Hea­rings fra­gen, ob er vor hat Isra­el über die Ver­hält­nis­mä­ßig­keit der gemit­tel­ten Schwe­re aller Gräu­el welt­weit zu kri­ti­sie­ren. Und wenn der dann sagt - ja, sagen wir - das ist aber nicht ver­hält­nis­mä­ßig, denn wir im Wer­te­wes­ten wol­len mit dem glei­chen Maß­stab gemes­sen wer­den wie - wie war noch ein­mal die Aus­sa­ge? Wie zahl­rei­che UNO Mit­glied­staa­ten die kor­rup­te Dik­ta­tu­ren sind, die die Rech­te ihrer Bür­ger mit Füßen treten?

Ich wür­de sagen, der Fort­schritt der Mensch­heit is gesi­chert. Wir neh­men wie­der ein­heit­lich Maß - und geben das dem neu­en UN Men­schen­rechts­kom­mis­sar bereits vor Amts­an­tritt mit auf den Weg.

Hal­la­li und Petri Heil!

Gut aber dass Maram Stern, Vize­prä­si­dent des World Jewish Con­gress (WJC), nicht das Argu­ment der Dop­pel­mo­ral nutzt um die Men­schen­rech­te als blo­ßes Vehi­kel zur Ein­mi­schung in Isra­els inne­re Ange­le­gen­hei­ten zu diskreditieren.

Ist die Ein­hal­tung der Men­schen­rech­te jetzt abso­lut zu wer­ten, oder rela­tiv? Nein, jetzt hab ichs, die Ein­hal­tung der Men­schen­rech­te ist abso­lut zu wer­ten, aber die öffent­li­che Kri­tik an einer Nicht­ein­hal­tung rela­tiv an einem welt­wei­ten Mit­tel abzustimmen.

Dazu die ARD heu­te: Isra­el wählt: Kommt “Bibi” zurück?

Das sind noch die sub­stan­zi­el­len Fra­gen die die­se Gesell­schaft bewegen.

PS: Es gibt kein Gebot zur “Aus­ge­gli­chen­heit” (nach Gefühl?) in der kri­ti­schen Bericht­erstat­tung im Jour­na­lis­mus. Aber es gibt eines bei der gegen­über Jour­na­lis­ten ange­brach­ten öffent­li­chen Kri­tik des UNO Men­schen­rechts­be­auf­trag­ten im Zusam­men­hang mit Israel/Syrien Vergleichen?

Erstaun­lich.

Aber nicht dass jeman­dem dabei die Bezeich­nung Dop­pel­mo­ral einfällt…

Die­se Gesell­schaft ist das Aller­letz­te, sterbt ihr Wichser.

edit: Viel­leicht ist das noch nicht deut­lich genug…

Also, wel­che Mel­dun­gen las­sen sich bei einer der­ar­ti­gen Aus­le­gung einer “öffent­li­chen Mel­de­schwel­le” verschleiern?

Isra­el hat bei­spiels­wei­se 2012 in Paläs­ti­nen­ser­ge­bie­ten ‘nur‘ vier Kin­der getötet.
Der Deutsch­land­funk was sei­ner­zeit offi­zi­ell ’scho­ckiert’!

Jetzt hat Isra­el aber in einer ein­zi­gen drei­tä­gi­gen Mili­tärin­itia­ti­ve in die­sem Jahr laut Paläs­ti­nen­ser­an­ga­ben 15 Kin­der getö­tet.

Wir neh­men jetzt also den prak­ti­schen Schlüs­sel des Vize­prä­si­den­ten des World Jewish Con­gress (WJC) bezüg­lich der zur wah­ren­den Pro­por­tio­na­li­tät in der ver­öf­fent­lich­ten Kri­tik und kom­men zu dem Schluss, dass - da in Syri­en seit Kriegs­be­ginn 500.000 Men­schen getö­tet wur­den, und in Paläs­ti­na in die­sem Jahr nur knapp 500 (über­schlags­mä­ßig, der Israel-Gaza-Konflikt Report für 2022 liegt noch nicht vor), im Schnitt aber etwa 200 pro Jahr seit 2011 - dass der UN Kom­mis­sar für Men­schen­rech­te über die Men­schen­rechts­ver­ge­hen in Isra­el 250 mal weni­ger berich­ten müs­se, als über die Gräu­el im syri­schen Bürgerkrieg.

Es wäre doch nur ver­hält­nis­mä­ßig, wenn das heu­ri­ge israe­li­sche Jahr in der New York Times einen klei­nen Arti­kel in einer Aus­ga­be pro Jahr bekä­me. Der Bür­ger­krieg in Syri­en etwa einen Arti­kel pro Tag - und die vier getö­te­ten Kin­der in 2012 - kei­ne Erwäh­nung fin­den würden.

Das ist Ver­hält­nis­mä­ßig­keit im Werte-Westen, nach Maram Stern.









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